Brauchen wir eine fürsorgliche Stadt?

Das Wort Care – Fürsorge – fiel am 30. April häufiger. Benutzt hat es Leslie Kern, Geographin, Professorin und Autorin der Bücher „Feminist City“ und „Gentrifizierung lässt sich nicht aufhalten und andere Lügen“. Beide hatte sie im Gepäck, als sie anlässlich ihrer Lesereise in Europa auf Einladung der architektinnen initiative nw im Baukunstarchiv NRW in Dortmund zu Gast für eine Lesung war.

Wobei Lesung es nicht ganz trifft. Es war ein sehr angeregtes und für die zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer inspirierendes Gespräch zwischen Leslie Kern und Karin Hartmann, Vorstandsvorsitzende der architektinnen initiative. Damit entsprach der Abend ganz dem Ton von Kerns Büchern, die abweichend vom gewohnten Sachbuchduktus eine sehr persönliche Note haben.

So beschrieb Kern ihr Erstaunen darüber, dass urbane Eigentumswohnungen in ihrem Viertel als feministische Wohnform vermarktet wurden und über die Fernsehserie Sex and the City. Und sie erzählte von ihren Freundinnen ebenso wie von ihrer Zeit als alleinerziehende Mutter.

Womit wir wieder beim Thema Care wären. Wenn man sich mit dem Alltag von Frauen in der Stadt beschäftigt, kommt man um den Aspekt der Care-Arbeit nicht drumherum. Der Großteil liegt auf den Schultern von Frauen – und beschränkt sich nicht nur auf Kinderbetreuung und alles, was damit zusammenhängt. Die Fürsorge beginnt beim Haushalt und der Beziehungsarbeit, die auch bei Paaren ohne Kinder anfällt, geht über ein Netz an Freund*innen, die Nachbarn oder das Ehrenamt bis zu Eltern und evtl. Geschwister. Obwohl die Erwerbsarbeit von Frauen in den letzten Jahren stark zugenommen hat, bleibt die Care-Arbeit unabhängig von Kindern weiter ungleich verteilt.

Weibliche Freundschaft verbessert die Welt

Fürsorge führt zu einem anderen Thema, dass Kern als zentral für die feministische Stadtplanung sieht: Freundschaft. Alle, wissen wovon die Rede ist: von einer Beziehung, die einen trägt. Die sich auch nach Monaten der Funkstille so anfühlt, als ob man erst gestern das letzte Mal gesprochen hätte. Die oder der in der Krise da ist, aber auch wenn Beruf mit Care-Arbeit kollidiert, Einkäufe das letzte bisschen Freizeit am Tag aufzufressen drohen oder einfach mal das Leben gefeiert werden muss.     

Kern sagt: „Female friendship is world-making “ und zitiert dabei die Feministin Erin Wunker. Doch die Stadt, wie sie aktuell gestaltet ist, ist dabei nicht besonders hilfreich. Es beginnt mit dem fehlenden Raum für Mädchen, die sich lieber ungestört unterhalten oder auf einer Bühne performen, statt sich mit dem Skateboard oder auf dem Ballspielplatz beweisen. Oder der Angst auf dem Nachhauseweg. Besonders die Vorstädte mit ihren Einfamilienhäusern verhindern Begegnung und das Entstehen von Freundschaft, wohingegen innerstädtisches Wohnen Kontakte fördert – und im Idealfall mit gut gestalteten öffentlichen Parks und Plätzen sowie mit einem dichten ÖPNV-Netz unterstützt.

Gentrifizierung und Gender

An dieser Stelle lässt sich der Bogen zum zweiten Thema des Abends schlagen: der Gentrifizierung. Kern argumentiert, dass Gentrifizierung nicht nur klassistische Aspekte berühre. Als Beispiel führt sie das bereits erwähnte innerstädtische Investorenprojekt an, in dem die kleinen Eigentumswohnungen mit dem Argument angepriesen wurden, dass Frauen hier sicher seien und sich um keine Reparaturen kümmern müssten. Gut, oder? Mindestens ebenso sehr geht es den Immobilienentwicklern darum, Gewinn zu machen. Und hochwertiges Wohnen wird an einer Stelle in der Stadt realisiert, an der bisher ein intakter, aber anderer Wohnstandard vorherrschte.

Kern identifiziert Gentrifizierung als System aus Macht und Unterdrückung – in unterschiedlicher Ausprägung: hinsichtlich der Klasse aber auch hinsichtlich des Geschlechts, der Hautfarbe, der finanziellen Mittel etc. Dieser Ansatz ermöglicht es, Gentrifizierung nicht länger als neoliberales Naturgesetz hinzunehmen, sondern aktiv anzugehen. Gegen den Missbrauch von Privilegien und die Unterdrückung bestimmter Gruppen hilft Solidarität. Diese können wir aktiv leben, indem wir eine Beziehung zu den Menschen in unserer Nachbarschaft aufbauen und lokale Angebote nutzen. Die Stadt selbst kann dabei unterstützen.

Die Stadt als Freundin

Eine wichtige Erkenntnis des Abends war mehr ein Gefühl: Die Stadt kann mehr sein, als Häuser, Straßen und öffentlicher Raum. Die Stadt kann im besten Fall das Leben aller besser machen.

Dafür benötigen wir eine unterstützende Stadt, eine die es erleichtert, Fürsorge für andere zu übernehmen, im familiären Kontext ebenso wie auf nachbarschaftlicher Ebene, die Freundschaften unterstützt und Solidarität. Dazu braucht es eine Infrastruktur, die sich an den Bedürfnissen derer orientiert, die Fürsorge leisten und derer, die sie benötigen. Dabei können die Rollen durchaus wechseln. Wir brauchen Möglichkeiten für Begegnung auf Augenhöhe. Wir brauchen Gelegenheiten zum Austausch ebenso wie kurze Wege und angstfreie öffentliche Räume. Wir brauchen Strukturen, die Solidarität fördern und Gemeinwohl über die Wirtschaftsinteressen einzelner stellen. Damit machen wir Städte nicht nur gerechter und lebenswerter, sondern auch nachhaltiger und resilienter.

Let’s reclaim the city – lasst uns die Stadt (wieder) erobern.